Bahnfahrtgedanken / -psychosen

Was für ein Morgen. Am Donnerstag letzte Woche hatte ich erfahren, daß am Montag für 10.00 Uhr das erste Meeting angesetzt war und ein Verschieben nach kurzer Rücksprache mit dem Einladenden nicht möglich sei. Das hieß für mich, dass mir wohl keine andere Wahl blieb als am heutigen Montag den frühen Zug in Richtung Dresden zu nehmen. Früh – das bedeutet jener um 5:49 Uhr – was ein Aufstehen um kurz nach 4:00 Uhr für am sinnvoll erscheinen ließ. Nach dem Duschen und dem Aufbrühen eines schnellen Senseo-Kaffees klingelt mein Mobiltelefon. WTF? Ein kurzer Blick aufs Display verschaffte mir Klarheit: „Morgen Gonzo.“, raunte ich etwas morgenmuffelig wie ich nun ein mal bin in das mobiltelefontechnische Gegenstück der Sprechmuschel. Er wolle nur sehen ob ich auch rechtzeitig aufgestanden bin sagt er. Er würde gerade erst nach Hause gehen sagt er. Nett gemeint, das mit dem schauen ob ich aufgestanden bin, ehrlich – aber es trägt auf der anderen Seite auch nicht gerade dazu bei, meine durch zu wenig Schlaf etwas grantige Morgenlaune zu verbessern. Speise ihn vielleicht etwas harscher als ich es eigentlich meine ab und nippe dann am Kaffee. Schnell noch einmal Mail und Rss-Feeds geprüft, Blogstatistiken angeschaut, einige letzte Dinge in dem Rolly gepackt und schon ging es los in Richtung Paradiesbahnhof. Auf dem Weg noch schnell eine Zigarette genossen, am Bahnsteig bin ich natürlich mit meiner leidigen Überpünktlichkeit der Erste.

Bis Halle (Saale), das war mir bewusst, würde ich ihn den „Genuß“ einer Fahrt mit einer Regionalbahn kommen. Erst kurz vor Ankunft des Zuges kommen noch einige andere Fahrgäste auf den Bahnhof – Herren allen Alters in Blaumännern, ein älteres Ehepaar mit Wanderrucksäcken, ein Mädel mit einem Damenfahrrad. Der Zug selber stellt sich glücklicherweise als recht leer heraus – suche mir ein Abteil und schiebe den Koffer aufgrund der fehlenden Gepäckablage neben mich zwischen die Sitze. Links hinter mir redet ein mitreisender Mittvierziger lautstark mit der schätzungsweise gleichaltrigen Frau eine Sitzreihe weiter, indem er sie ihr Fragen über ihr Privatleben stellt und zu den Antworten seine Kommentare abgibt. „Waren sie schon in Urlaub?“ „Im August wollen wir fahren.“ „Oh, ich war ja letztes Jahr in Mecklenburg – da ist es ja soooo schön….“ und so weiter. Doch wenige Stationen später verlässt seine Quasi-Gesprächspartnerin den Zug – und nun geht er dazu über deutlich hörbar in seiner Zeitung zu blättern und sich zusätzlich hin und wieder durch kurze, trockene Huster bemerkbar zu machen. Langsam beginnt sich Station für Station der Zug immer mehr zu füllen.

Eine ältere Frau mit kurzem Bubischnitt setzt sich vor mich, legt ihre vom Tragen hochhackiger, viel zu enger Schuhe verformten Füße auf die gegenüberliegende Sitzbank und beginnt sich mit irgend einer Feuchtigkeitslotion an Händen, im Gesicht und an den Schultern einzuschmieren. Während ich in der Wolke des nach hinten wehenden Cremégeruchs sitze, denke ich unvermittelt an „Das Schweigen der Lämmer“. „Es muß sich den Körper mit der Lotion einreiben.“, sagt der Serienkiller da zu seinem Opfer am Boden einer Grube. Doch der Gedanke geht genau so schnell wieder, wie er gekommen war. Es gibt meiner Ansicht nach nun einmal einige Dinge, die man wirklich nicht in der Öffentlichkeit vollziehen sollte. Und dazu gehört unter anderem nun einmal auch das öffentliche Anwenden von Feuchtigkeitslotionen in geschlossenen Regionalbahnabteilen, wobei abhängig von Alter, Körperbau und Geschlecht mit Sicherheit auch das Zulassen von Ausnahmen von dieser ungeschriebenen Regel denkbar wären… 😉 Dann kramt sie Fotos von irgend einer kleinbürgerlichen Feier heraus und betrachtetet versunken und leise vor sich hin murmelnd ihre auf Bierbänken sitzende, Bratwürste essende und Bier trinkende Verwandschaft oder Bekanntschaft.

Kurz vor Merseburg wechselt sie dann aus nicht ganz ersichtlichen Gründen auf eine andere Sitzbank schräg gegenüber. Wohl um meinem Albtraum, meinem Menetekel, meiner Pandora unbewußt Platz zu machen: Der Quasselstrippe. Eine Endzwanzigerin, schwarz gefärbte, lange Haare, Jeansjacke, tiefer Auschnitt, außerdem viel zu stark geschminkt, vor allem an den Lippen, setzt sich mit einer Begleiterin auf die gegenüberliegenden Bänke vor mir und beginnt sofort damit, jene Begleiterin mit einem Schwall von Worten zu überhäufen. So erfahre ich ungefragt während ich mich versuche auf mein Buch zu konzentrieren, daß sie nur 2 Stunden geschlafen hätte, am Wochenende (wohl aufgrund übermässigen Alkoholgenusses) gekotzt hat, daß eine ihrer Freundinnen in die DomRep in Urlaub fliege und viele weitere useless-informations, die ich hier nicht wirklich wiedergeben möchte, aufgrund der von ihr an den Tag gelegten Lautstärke aber auch nicht überhöhren konnte. Ihre Begleiterin quittiert alles mit kurzem, zustimmenden Brummen, einem zustimmenden „Aha“ oder maximal einer drei- bis viersilbigen Äußerung. Erst als wir die Leuna-Werke (die wie ich nicht wußte über zwei eigene Bahnhöfe verfügen) erreichen, scheinen ihr die Themen aus zu gehen und ich kann wieder mehr auf mein Buch fokussieren. Auch der Huster hinter mir links scheint sich ausgehustet zu haben – nur die Gespräche vom nächsten Wagen dringen noch leise zu mir herüber.

Bis Halle Hbf komme ich einige Seiten voran, bevor ich aussteigen muss. „Aufgrund von Bauarbeiten fährt der ICE xyz nach Dresden von Gleis 10 ab. Bitte beachten Sie dass….“, quäkt es dort aus den Lautsprechern. Und ich stehe am Gleis 3. Na toll. Wer den Bahnhof in Halle (Saale) kennt, weiß daß man quer durch den Bahnhof inkl. der integrierten Einkaufpassage muß, um von Gleis 3 nach Gleis 10 zu gelangen. Doch die Eile die ich an den Tag legte war gar nicht notwendig gewesen – der Anschluß-ICE hatte sieben Minuten Verspätung – aufgrund der bereits eben genannten Bauarbeiten. Und leider ist der Bahnhof hier rauchfrei – und die Zeit um, beladen mit Rolly und Rucksack, eine Zigarette irgend wo vor dem Gebäude zu genießen habe ich leider nicht. Und kein Raucherabteil im ICE. Muß ich halt weiter bis Dresden warten, wo ich die rauchfreien Gefilde der deutschen BundesBahn Bahn AG verlassen kann.

Der ICE bringt mich von Halle Hbf über Leipzig Flughafen nach Leipzig Hauptbahnhof, füllt sich dort bis auf den letzten Platz, hauptsächlich mit Geschäftsleuten und anderen, durchgehend etwas angenehmeren Mitreisenden, die sich im Zug nicht mit Lotionen eincremen, ihre verformten Hammerzehen präsentieren oder ihr Privatleben durch das halbe Abteil quasseln. Der ICE-Reisende arbeitet am Notebook, liest ein Buch, löst Kreuzworträtsel oder starrt gedankenverloren aus dem Fenster. So fahre ich gerne mit der Bahn! Und sogar eine Steckdose fürs Notebook-Netzteil ist vorhanden – das einzige was mir noch zur Glückseligkeit fehlen würde wäre ein kostengünstiger oder gar -freier W-LAN Hotspot mit Zugang zum Internet im ICE. So etwas ist aber in der Erprobung und vielleicht erlebe ich es noch. In Dresden Neustadt muß ich schließlich muß ich auf die S-Bahn umsteigen. Während ich auf die S-Bahn warte entdecke ich sie, die Oase aller nikotinsüchtigen Bahnreisenden: eine Raucherinsel. Schnell eine Zigarette aus der zerknitterten Schachtel gefischt, angezündet und den blauen Dunst inhaliert. Doch die Freude ist nur von kurzer Dauer, denn wenig später kommt bereits die S-Bahn.

Und kaum bin ich eingestiegen, erlebe ich die nächste erschütterliche Begegnung: Eine Gruppe von fünf oder sechs jungen Männern, die Ältesten vielleicht Mitte zwanzig, sitzt im Abteil und trinkt Bier aus Glasflaschen, wobei sie ziemlich dünnes Geseiere mit unnötiger Lautstärke von sich geben. Und das morgens um kurz nach 9:00 Uhr. Alle sind bereits deutlich angetrunken. Gegen ein bis zwölf Bierchen in Ehren ist ja prinzipiell nichts einzuwenden, aber bitte doch nicht so früh am Montag Morgen. Und dann steigt diese „persona non grata“ Gruppe auch noch am selben S-Bahnsteig aus wie ich. Jetzt nur nicht auffallen und womöglich noch eine Konfrontation mit diesen Leuten herauf beschwören. Sie haben vielleicht bemerkt daß ich ihren verfrühten Alkoholgenuß nur missbilligend zur Kenntnis nehme. Doch glücklicherweise wanken sie sich zwar lautstark unterhaltend, mich aber weitgehenst ignorierend von dannen. Mann-o-Mann – Bahnfahren im ICE ist ja noch ganz schön, aber was man so in anderen öffentlichen Verkehrsmitteln erlebt, ist wirklich unglaublich. Oder liegt es vielleicht nur daran, daß ich nicht lange genug geschlafen habe? 😉

4 thoughts on “Bahnfahrtgedanken / -psychosen

  1. Hallo.
    Wenn Du so weiterschreibst, sehe ich 2 Wege für Dich:
    1. Du schreibst ein Buch (ist ja schon fast „Buchform“)
    2. Du machts das Ganze demnächst als Audio-Blog

    Ist zwar viel zu lesen, aber ich finde die Art nicht schlecht….

  2. …wem sagst du das. bahnfahren ist manchmal echt nervig. aber rückwirkend betrachtet war es mehr gutes/lustiges als alles andere.

  3. Eine unterhaltsame Schilderung einer Reise mit der DB/Eisenbahn und den anschließenden Öffentlichen Verkehrsmitteln. – Genau so habe ich es noch in erinnerung aus der Zeit, als ich regelmäßig zwischen Schmalkalden und Jena pendelte.
    Da wurde es erst richtig „unterhaltsam“, wenn auf der Strecke EF-WE-J die ganzen pendelnden Studenten und azubis dazu kamen. Dagegen ist eine mittägliche Fahrt in der Jenaer Straßenbahn relativ langweilig…

    Um mich dem Kommentar von Johnny anzuschließen: Es gibt einige Leute, die in diesem (Schreib-)Stil Bücher schreiben über ihre Erlebnisse im Alltag in Deutschland (z.B. Jan Weiler: In meinem kleinen Land)

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